Gerade war ich bei einem Groß-Supermarkt, nachdem ein Bekannter erzählt hat, dass es beim „Real“ zugehe wie auf einem Rummelplatz. Normalerweise bin ich dort nicht, allerdings war ich nun neugierig, ob hier wirklich nur Lebensmittel und Getränke verkauft werden. Der Blick in den Laden zeigt, es gibt Smartphones, Fernseher, Bekleidung, Faschingsartikel, Spielwaren, Küchenartikel und vieles andere, was das Konsumherz begehrt jeweils auf Flächen, die einzeln für sich größer sind als die meisten kleinen Geschäfte, die ich für meine Einkäufe besuche.
Wie wir wissen, wurden die kleinen Einzelhändler, die nicht auf der Positivliste des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit stehen, zu einem Infektionsrisiko erklärt. Die Schließung soll bekanntlich das Ausbreitungsgeschehen abmildern. Als Abgrenzungskriterium gilt nach § 12 der Bayerischen Infektionsschutzverordnung das Anbieten von Lebensmitteln, Drogerieartikeln, Fahrrädern, Autos und etlichen weiteren Punkten. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit hat zur Einordnung eine Positivliste entwickelt.
Zu Real, Kaufland und Co führt das Staatsministerium für Gesundheit aus:
„Bei Großbetriebsformen des Handels wie insbesondere SB-Warenhäusern, Verbrauchermärkten und großflächigen Drogeriemärkten gilt die Mischbetriebsregelung nicht, wenn nicht-erlaubte Sortimente in eigenen, gut abgrenzbaren Abteilungen (etwa eigenes Stockwerk; zusammenhängende, gut abgrenzbare größere Fläche) des Betriebs angeboten werden. Diese Abteilungen sind zu schließen.“
Wer entscheidet darüber, was abgrenzbar ist und was nicht. In dem Großsupermarkt gibt es Flächen mit den sogenannten „nicht erlaubten Warenangeboten“ von weit über 2.000 Quadratmetern. Die Flächen sind klar gegliedert nach Lebensmitteln, Bekleidung, Spielwaren und anderen Abteilungen. Dennoch sind diese offen und bieten für Kunden eine sehr exklusive Möglichkeit, vor Ort einkaufen zu können. Es wird auch Beratung angeboten, abgesehen von der FFP2-Maske und dem Einkaufswagen, der für die Einkäufe hilfreich ist, ist alles wie immer.
Aus meiner Sicht wären die Flächen hervorragend abgrenzbar. Direkt an der Kasse gibt es sogar eine Sonderangebotsabteilung vorrangig für Bekleidung. Ich denke an den Bekleidungshändler, bei dem ich normalerweise einkaufe, der hat geschlossen und was wird er mit seiner Saisonkleidung wohl machen.
Auf der Fläche des von mir besuchten Groß-Supermarkts tummeln sich mehr Menschen als ich sonst in normalen Zeiten in den kleinen Läden sehe. Das gilt nicht nur absolut, sondern auch relativ. Hier bei Real sind oft 10 Kunden auf 100 Quadratmetern zu sehen. Bei kleinen Läden treffe ich maximal drei Kunden in einem Laden mit 80 Quadratmetern.
Ein Real-Markt hat eine Fläche von 7.000 Quadratmetern (laut Statista). Vorhin dürften es locker 400 Personen gewesen sein, vielleicht auch 600. Wenn die Kunden im Durchschnitt eine Stunde im Laden verbringen, können an einem Samstag 5.000 Menschen kommen und vollgepackt mit Waren wieder heimgehen.
Wie ist es im Vergleich zu Zeiten, in denen kein Lockdown herrscht? Ich fahre an dem Laden seit Jahren vorbei, wenn ich meine Mutter besucht habe. Sowohl die Anzahl der parkenden Autos als auch die einströmenden Kunden lassen mich mutmaßen, dass die Zahl der Kunden aktuell deutlich höher ist als sonst. Das ergibt auch Sinn, weil Alternativen geschlossen sind.
Gerade sehe ich jemanden mit einem 32-Zoll-Fernseher hinauskommen. Ein Sonderangebot, wie ausgeschildert, hat er für schlappe 159,90 Euro ergattert. Ob der Kunde den Fernseher vielleicht bei einem Fachhändler gekauft hätte, wenn er öffnen hätte dürfen? Ob das Risiko der Ansteckung wirklich sinkt, wenn sich die Kunden bei wenigen großen Händlern treffen? Oder wäre das Risiko geringer, wenn die Kunden verteilt sind auf viele kleine und mittlere Einzelhandelsgeschäfte? Viele Politiker hatten sich gewundert, dass die Inzidenzraten nicht gesunken sind nach dem Lockdown light und auch nicht Wochen nach dem harten Lockdown. Ministerpräsident Söder hat die „Schlupflöcherkultur“ bemängelt. Das, was ich hier in einer Großbetriebsform sehe, „geht auf keine Kuhhaut“, würde man vielleicht in Bayern sagen, wenn es in milder Form ausgedrückt würde.
Kennt die Regierung den Artikel 153 Absatz 1 der Bayerischen Verfassung?
„Die selbständigen Kleinbetriebe und Mittelstandsbetriebe in Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie sind in der Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen.“
Nach meiner Interpretation ist der Verfassungsartikel wie folgt zu interpretieren. Einzelhandelsgeschäfte sind vor Oligopolen und Monopolen zu schützen. Der langfristige Trend in den Bereichen Lebensmittel, fossile Energien, Bekleidung, Möbel, Internet und viele andere geht in Richtung Konzentration und Konzernbildung. Viele Schlüsselmärkte haben sich zu Oligopolen verwandelt, das ist nichts Neues und längst von Autoren wie Piketty („Kapital im 21. Jahrhundert“) beschrieben.
Die Infektionsschutzverordnung schützt auf der einen Seite vor allem die ältere Bevölkerung vor Ansteckungen mit tödlichen Risiken.
Dabei gibt es jedoch zwei Kehrseiten.
Die Marktanteile werden durch die langen Lockdowns unwiderruflich zu großen Online-Händlern verschoben. Das Jahr 2020 hat den Online-Händlern laut dem Statistischen Bundesamt einen Rekord-Zuwachs von 33,1 Prozent beschert. Initiativen zur Besteuerung von Digitalkonzernen sind bislang versandet oder wirkungslos und die Steuerlast ist durch globale Steuerkonstrukte deutlich geringer.
Die zweite Kehrseite sind Verschiebungen zwischen dem stationären Einzelhandel, wie wir sie jetzt zum Beispiel zwischen den Großbetriebsformen und dem kleinen Einzelhandel, die nicht auf der Positivliste des Freistaats stehen, erleben. Während die einen im Covid-Krisenjahr um 3,9 Prozent zulegen konnten, verlieren die „Nicht-Positiven“ an Umsätzen, darunter Bekleidungshändler 20 Prozent und reine Waren- und Kaufhäuser 6,1%. Würde man nur die Lockdown-Zeiten berücksichtigen, sind die Verschiebungen nochmal deutlich größer sowohl zwischen den stationären Händlern als auch zu den Online-Händlern.
In der Hektik der sich überschlagenden Neuverodnungen ist die Frage, wie wieder Vernunft und Augenmaß gegenüber den kleinen und mittleren Betrieben hergestellt werden kann. Mitten in einer Infektionswelle ist eine Entscheidung extrem schwierig, dennoch sollte das Prinzip des milderen Mittels zur Erreichung von Zielen Anwendung finden. Dabei ist nicht hinnehmbar, dass für vergleichbare Sachverhalte zweierlei Maß angewandt wird. Es braucht darüber hinaus auch einen Ausgleich des langfristigen Schadens, der durch die Lockdown-bedingte strukturelle Verschiebung der Marktanteile entstanden ist. Es bedarf eines öffentlich legitimierten „Unternehmer*innen-Rats“, der aus kleinen und mittleren Unternehmen zusammengesetzt wird. Dieser könnte sich am Grundgedanken des Art. 153 der Bayerischen Verfassung orientieren, um auf dieser Basis einen Ausgleich zu beraten und in die Entscheidungsgremien einzubringen.